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13.01.2021, 16:56 #16
Musiktexter
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Hallo, Ferdi, danke für dieses sicher seltene Abbild der metrischen Arbeit unserer Urahnen. Kannst du Noten lesen?
Dann würde ich hier gelegentlich (!) ebenfalls Noten statt x-e posten. Denn nur Länge, Betonung (UND Tonhöhe) der Vokale skizzieren Metrik hinreichend anschaulich.
Mir ist so, als hätte ich im Zusammenhang mit der Entwicklung des dt. Hexameters gelesen, dass einer der Vorkämpfer auch für vielhebige Versfüße Namen entwickelte . Kann auch Voss gewesen sein...
Eine solche Systematik hätte ich beim Laufen gern im Kopf, um flüssig dichten u zu können. So sage ich mir unterwegs oft: Beim V1 fehlt noch hinterer Diameter... bei V3 noch der erste Kretikus (Daktylus) usw. Auf diese Weise kann ich mir ein Strophenskelett merken, ohne immer wieder von Zeile zu Zeile alles tausendmal wiederkäuen zu müssen. Und das Schauen beim Laufen sollte man übers Schreiben ja auch nicht vergessen.
Hm, Bezeichnungen für Rhythmuselemente gefallen mir ! Verstehe ich zB. das Folgende richtig:
Kretischer Tetrameter= // XxX, XxX, XxX, XxX// ? | Oder // XxX, Xxxx-, XX, XxX (mit Päon)//? | Und auch //XxX, xxxX, Xxxx, XxX // ?
Mal grob geschätzt: Wieviele metrische Figurenbezeichnungen kennst (bzw. benutzt) du?
Zitat von Ferdi
Gruss
ArtnameGeändert von Artname (14.01.2021 um 16:02 Uhr)
Genau so, oder eben ganz anders!
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14.01.2021, 21:47 #17
gebügelt
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Hallo Artname!
Ja, ich kann Noten lesen ...
Ein "seltenes Abbild" ist Voss' Darstellung eigentlich nicht; Rückgriffe auf musikalische Begrifflichkeiten sind sogar außerhalb von taktbasierten Metriken häufig. Schau doch mal im 10. Band der Allgemeinen musikalischen Zeitung vorbei – da geht es gleich auf der ersten Seite mit einer zwölfteiligen Reihe los des Titels "Über Rhythmus und Metrum", und der Verfasser, August Apel, beginnt sein Werk mit dieser Feststellung: "Die Lehre vom Rhythmus würde längst jedem klar und verständlich sein, mangelte nicht auf der einen Seite den Theoretikern die Kenntnis der Musik, und auf der andern den Tonkünstlern die Lust oder auch die Fähigkeit zur Abstraktion. So lange beides sich nicht vereint, können alle Versuche, eine Theorie des Rhythmus aufzustellen, die Begriffe nur verwirren."
"— ◡ —, — ◡ — || — ◡ —, — ◡ —" ist der gewöhnliche kretische Tetrameter. Wenn ich mich recht erinnere, konnte man in der Antike jede schwere Silbe in zwei leichte auflösen, nur die letzte nicht; und auch durchaus mehrere pro Vers. Wobei sich dann natürlich die Frage stellt, ob es noch ein kretischer Vers ist ...
Düsterer und schauerlicher schattete die Mitternacht
— ◡ ◡ ◡, — ◡ ◡ ◡ || — ◡ ◡ ◡, — ◡ —
– Voss; Ist das ein kretischer Tetrameter mit drei aufgelösten schweren Silben oder ein päonischer Tetrameter, bei dem die beiden leichten Schlusssilben zu einer schweren zusammengezogen wurden? Es gibt auch Leute, die denken derlei von einem "fünfzeitigen Takt" her und nennen dann den Kretikus dessen dreisilbige Form und den Päon dessen viersilbige Form ... Metrische Begrifflichkeiten sind, na: unübersichtlich.
Die mehrsilbigen Versfüße haben Namen, aber die alten griechischen; da sind, glaube ich, keine deutschen entwickelt worden. Also schon, für die bis viersilbigen Füße; aber durchgesetzt hat sich da nie etwas.
Ich kenne ein paar Dutzend Namen für rhythmische Einheiten; ich denke aber eher in "Strich-Haken-Formeln", und am liebsten spreche ich mir die Einheiten vor.
Gruß,
FerdiGeändert von Ferdi (14.01.2021 um 21:58 Uhr)
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15.01.2021, 22:04 #18
gebügelt
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Wachtelverse (7)
Der von mir so bezeichnete Grundvers, "— ◡ —, — ◡ — || — ◡, — ◡, —", hat ein "kretisches Herz": Das sind die ersten sechs Silben, die beiden kretischen Versfüße. Die können sich, wie schon häufig gezeigt im Faden, mit trochäischen Füßen von verschiedener Anzahl und Form verbinden; aber sie können auch gut alleine stehen, erst recht innerhalb einer antikisierenden Odenstrophe. August Apel stellt seinem "Päan (das ist ein Dank- oder Bittlied an eine Gottheit) der Korinther" folgendes Silbenbild voran:
— ◡ ◡ ◡ —, x — ◡ ◡ — x
— ◡ ◡ ◡ —, x — ◡ ◡ — x
— ◡ —, — ◡ —
— x — ◡ ◡ — ◡ ◡ — x
Mit "x" habe ich hier Versstellen gekennzeichnet, die sowohl mit einer schweren als auch mit einer leichten Silbe besetzt werden können! V3 ist allerdings frei davon und ein lupenreiner "kretischer Dimeter" ... Dass Apel das Silbenbild voranstellt, erweist sich gleich in der ersten Strophe als hilfreich:
Schau von des Olymps hellglänzendem Lichtthron
Gnädig in das Land voll Jammer und Trübsal;
Nah dich uns hülfereich,
Steig hernieder, o König Apollon!
Die ersten drei Silben von V3 sind einsilbig, meint, nicht so einfach als "leicht" oder "schwer" zu erkennen; das Silbenbild macht klar, dass ...
Nah dich uns / hülfereich
... gemeint ist, und das liest sich ja auch gut! Ich gebe von der längeren Bitte um Beistand gegen die "Frevler" noch die letzte Strophe:
Scheuche sie zurück durch tödliches Schreckbild,
Oder so die Kraft hochwaltenden Schicksals
Deinen Arm mächtig hält,
Send' uns Thanatos' sichere Rettung!
Hier wäre V3 auch ohne die Hilfe des Silbenbilds als eindeutig kretische Bewegung erfahrbar?!
Interessant auch das "— ◡ ◡ ◡ —" der ersten beiden Verse – eigentlich eine Fortsetzung der mit dem Kretiker begonnnen Reihe,
— ◡ —, — ◡ ◡ —, — ◡ ◡ ◡ —
Genau diese Folge dreier metrischer Grundeinheiten findet sich als Schlussvers einer Klopstock-Strophe; "Jesus rief", schließt der vorletzte Vers,
Laut vom Kreuz himmlisches Heil, ewiges herab!
Da ist also ein wirkliches Gefühl von Verwandschaft, nein?! Johannes Minckwitz' "An Friedrich Frizzoni und Gündel" ist ein Text, der die Dinge, na, übertreibt; man sehe nur das vorangestellte Silbenbild!
— ◡ — — — ◡ ◡ ◡ — ◡ — ◡ — x
— ◡ — — — ◡ ◡ — ◡ —
— ◡ ◡ ◡ — — ◡ — — ◡ —
— — ◡ — ◡ ◡ — ◡ — — — ◡ ◡ — ◡ ◡ — ◡ ◡ — ◡ ◡ —
◡ — — — — ◡ ◡ — ◡ ◡ — ◡ —
x — ◡ ◡ — — — ◡ ◡ — ◡ ◡ — — — ◡ — —
Das Monster aus V4 ist 23(!) Silben lang – kein Ohr der Welt vermag da eine Bewegung sicher wahrzunehmen. Aber interessant ist vor allem V3: Der ist zusammengesetzt aus dem gerade angesprochenen "— ◡ ◡ ◡ —" und unserem "kretischen Herz", dem "— ◡ —, — ◡ —"!
Und im Text hört man das auch wirklich – die erste Strophe:
Könnt' ich hell ausbreiten des Gesanges Blumenteppich,
Wie der Lenz aufwachende Wiesen malt,
Schwebend in dem Mai farbenreich talentlang:
Dann ließ ich auch der Gefühle Bach durchströmen in sonnigen Windungen hell und klar,
Indes aufschießt längst der bewässerten Ufer Rand
Üppig emporquellender Gedanken Heer, Stauden gleich,
Mit welchen des Südwinds halmumsäuselnder Hauch sanftwogend Spiel treibt.
Äh ... ja. V3:
Schwebend in dem Mai / farbenreich / talentlang
Deutlich vernehmbar?! Den restlichen Text erspare ich uns, nur die anderen "dritten Verse" führe ich noch an:
S2 – Spendend dem Gemüt, das dem Quell duftig naht.
S3 – Bald zu dem Gewölk steigt er auf, bald im Tal
S4 – Preisen wir des Volks wache Herrschgierde je,
S5 – Zehrenden Gewichts? Doch die seetiefe Kraft
S6 – Wärmeres Gebiet, reich an goldhellem Wein,
S7 – Wölfischen Verstecks. Klang das Rheinlied umsonst?
S8 – Heilige der Kunst, Monden gleich, dienen ihr,
S9 – Lenkend das Gespann durch die Luft pfeilgeschwind.
S10 – Mitten im Gesang brach das Herz jüngst entzwei,
S11 – Einziges Geschenk für die graulockige,
S12 – Aber es entrinnt alle Pein, wenn zu Haus
S13 – Wieder zu entfliehn aus des Nords Krankenhaft,
Was erst einmal heißt, man kann solche wahnsinnsnahen Strophengebilde offensichtlich über 13 Strophen ausspinnen; aber vor allem sind diese Verse brauchbares Gedankenfutter, wie sich kretische und verwandte Rhythmen verwirklichen lassen.Geändert von Ferdi (Gestern um 11:21 Uhr)
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