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12.08.2005, 16:32 #1
Anti-Dilettant
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Vom Riechen, Sehen, Hören und Fühlen im Sommer
In der größten Mittagshitze
(Düfte süßlich, wie Lakritze)
fährt ein leises Zittern durch die Äste.
Still und schnell, wie ungebetne Gäste,
die mit Diebestrieben in das Haus gedrungen,
ziehen Wolken auf und Luft drückt auf die Lungen.
Und die sturmgefärbten Wolkenformationen
quillen, um die Phantasien zu erproben,
morphen Fabelwesen, die, bizarr verwoben,
wabern zu den Klängen meiner Illusionen.
Da! es zuckt der erste Blitz durch das Gewühle,
grell, doch stumm, der Bote nahender Gewalten,
die sich leuchtend, flackernd himmelwärts entfalten -
Und von oben bricht hervor die nasse Kühle.
Wie aus Eimern schüttet nun der schwere Regen.
Bäche rinnen stürzend von den grünen Blättern.
Hinterm Rauschen hört man Donnerschläge schmettern,
bis die Stürme sich erschöpft zur Ruhe legen
Und die Sonnenstrahlen ihre Wege winden,
sich zu roten, gelben, blauen Bögen finden,
uns an unsern Nasenspitzen kitzeln,
spiegelnd Blitze in die Pfützen kritzeln,
wenn wir, um die Luft zu riechen,
wieder aus den Höhlen kriechen.
© LeVampyre | XXVI, Aug. 2005
Dieser Text kann als mp3 auf meiner Homepage angehört werden.
Bitte beachtet auch die besonderen Lizenzbestimmungen an meinen kreativen Werken!
Eine Liste meiner bei Gedichte.com veröffentlichten Texte gibt es u.a. in meinem Sammelfaden.Geändert von levampyre (19.03.2006 um 23:27 Uhr)
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12.08.2005, 17:09 #2
Einer von denen
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Hallo,
ich bin zutiefst beeindruckt - dermaßen schön habe ich ein Sommergewitter noch nie beschrieben gesehen. Wie dein Titel schon aussagt: Man riecht, sieht, hört und fühlt das Gewitter.
Nur eine kleine Winzigkeit als Anmerkung (weil du ja offensichtlich viel Wert auf Perfektion bei deinen Gedichten legst), zwei Tippfehler:
"morphen Fabelwesen, die, bizarr verwoben," (S2V3): Hier müsste es, wenn ich mich nicht irre, "morphe Fabelwesen" heißen, oder?
"wieder aus den höhlen kriechen" (S5V6): Höhlen groß.
Jedenfalls meine Hochachtung vor dieser Perle!
Grüße
Thomas"Man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben fähig ist."
Jorge Luis Borges
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13.08.2005, 00:04 #3
gefaltet
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Hallo levampyre
Die (sprach-) gewaltige Beschreibung eines Sommergewitters.
Wunderbar und formvollendet.
Was ich herausheben möchte: Die perfekte Einheit von Inhalt und sprachformaler Umsetzung. Ein Lehrstück für die lautmalerische Unterstützung des Inhaltes würde ich mal sagen.
Ein Gewitter zieht auf, die Wolken verdichten sich. Formal unterstützen die Paarreime und die länger und länger werdenden Verszeilen (4,5,6 hebige Tröchäen) diesen Vorgang. Die Beschreibung des Gewitters erfolg in perfekten gefugten sechshebigen Trochäen mit Kreuzreim. Klingt das Gewitter ab, so ziehen sich auch die Verslängen wieder zurück (6,5,4 hebige Trochäen und Paarreim),
Was ich jedoch beeindruckender finde: Die Stimmung wird wunderbar durch den lautmalerischen Klang getragen. Es ist einfach grossartig gemacht, wie die Klangfarbe der einzelnen Buchstaben zur Stimmung des Textes beitragen.
Beispiel: Der Klang der Reimwörter
Ausgehend vom hellsten, klarsten Vokal („i“, Hitze, Lakritze), wird es düsterer und düsterer („äste“, „ungen“) nicht nur Inhaltlich, sonder auch lautmalerisch tritt eine „Verdunkelung“ ein.
Diese findet ihren Höhepunkt in Strophe 2, wo alle Reimwörter auf „o“ klingen. Dabei ist das „o“ jeweils mit einem weichen Konsonanten gepaart, was gut zu den weichen aber verdunkelnden Wolkenbewegungen passt. Danach übernehmen „ü“ (für den kühlenden Regen) und die harten Konsonanten werden zielgenau bei den drohenden Gewalten und bei den Donnerschlägen platziert.
In den beiden letzte Strophen wird die Stimmung wieder schrittweise heller. Sie geht vom „e“ wieder über in eine reine Strophe mit dem hellen „i“ (winden, finden, etc.).
Mein erster Eindruck: Es ist formal grossartig gemacht. Mit 100%-iger Sicherheit kann man noch weitere Kniffe entdecken.
Man kann nun kognitiv an den Text gehen und versuchen, diese Kniffe aufzudecken (da habe ich oben mal begonnen...) oder man kann das Ding einfach affektiv auf sich wirken lassen. Das ästhetische Lustempfinden ist (auf alle Fälle bei mir) enorm.
Ich musste hier spontan an den Schluss deines Essays denken, wo es um die formalen Gestaltungsmöglichkeiten geht: "Der Künstler ist dabei nur sich selbst verpflichtet. Seine Kreativität wird einzig durch sein Können begrenzt."
Sehr treffend.
PS: Weshalb werden uns eigentlich die Werke XXII-XXV vorenthalten und dieses hier (zum Glück) nicht?
Soll es etwa nicht ins Büchlein aufgenommen werden? Wäre m.E. ein Fehler, auch wenn's vielleicht nicht den "levampyre-typischen philosophischen Tiefgang" hat.
Grosses Kompliment und Gruss
Andvari
[Geändert durch Andvari am 12-08-2005 um 23:18]
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13.08.2005, 10:42 #4
gewaschen
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Ursprünglich eingetragen von Roderich
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"morphen Fabelwesen, die, bizarr verwoben," (S2V3): Hier müsste es, wenn ich mich nicht irre, "morphe Fabelwesen" heißen, oder?
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13.08.2005, 11:06 #5
Einer von denen
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Ursprünglich eingetragen von Springmaus
Ich dachte, "morphen" sollte hier ein Verb sein.
Grüße
Thomas"Man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben fähig ist."
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13.08.2005, 14:59 #6
Anti-Dilettant
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@ Roderich + Springmaus:
Das "morphen" ist von mir tatsächlich als Verb gebraucht. Die "Wolkenformationen" sind dazu das passende Subjekt. Ein "morphe" könnte man hingegen sehr doppeldeutig verstehen, entweder als Adjektiv zu den "Fabelwesen" oder wiederum als Verb, diesmal mit dem Subjekt "Ich", wobei das letztere für mich nicht in Frage kommt und daher durch ein "morphen" ausgeschlossen werden mußte.
Die "höhlen" sind hingegen tatsächlich ein Tippfehler und weil ich, wie schon alle vermuten, wirklich Wert auf Perfektion lege, wird das natürlich sofort geändert.
@ Andvari:
Es freut mich, dass du für solche Aspekte am Text sensibel bist. Ich habe bei diesem hier tatsächlich lange an der lautmalerischen Nutzung von Vokalen und Konsonanten gearbeitet, nicht nur, was die Reimworte betrifft.
Dieser Text ist in vielerlei Hinsicht mal wieder ein Experiment - mein erstes Naturgedicht. Ich dachte, dass ich mit Hilfe von bspw. /w/ und /o/ Lauten gut diese wuchtigen Wolkenberge vermitteln könnte, ohne in altbackene Naturlyrik-Klischees verfallen zu müssen u.s.f.
Letztlich sind es diese Kleinigkeiten, die am Text wirken - selbst wenn sie der Leser nicht analysieren und/oder benennen kann. (Für einen Dichter ist das natürlich von Vorteil, weil er dann weiß, wie er es selbst anwenden kann, wenn es ihm gefällt.) Dass ein Bild, eine Emotion, eine Stimmung oder dergleichen im Gedicht so direkt vermittelt werden kann, liegt nicht vornehmlich an (referentiell) inhaltlichen Entscheidungen. Wichtig ist für mich nicht so sehr, was ich sage, sondern vorallem wie ich es sage.
Dass dieses 26 Gedicht nun veröffentlicht ist, liegt an Margot (S.Baumann), die im Metaphorum die Aufgabe gestellt hatte, ein Naturgedicht zu verfassen. Ansonsten wollte ich einfach ein paar Texte zurückhalten, bis mein Buch da ist. Weil ich glaube, dass es sonst für viele vielleicht langweilig wird, wenn da nur Texte drin stehen, die sie sowieso schon alle kennen.
Ich danke allen Kommentatoren für die Auseinandersetzung mit dem Text, freue mich über ihr Lob und natürlich darüber, dass der Text Anklang findet.--LeV
Man sollte keine Dummheit zweimal begehen, schließlich ist die Auswahl groß genug. ~ J.P. Sartre
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14.08.2005, 18:17 #7
gebügelt
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Auch für jemanden wie mich,dem jegliche Gedichtserfahrung abgeht,war es ein absoluter Hochgenuss!Suse
Windsbraut
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16.08.2005, 16:36 #8
Anti-Dilettant
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Das freut mich.
--LeV
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