Die Flamme der Kerze
Sie hat vor drei Jahren begonnen, die Geschichte die niemand hören wollte. Und niemals war es wirklich ein Drama geworden, nur einer wusste, es war anders gewesen. Etwas anderes war geschehen, etwas hatte sich damals verändert.
Aaron, er war ein wundervoller Mensch. Wenn er lachte, dann strahlten seine Augen, sie blinkten und glitzerten wie kleine Sterne.
Seine Stimme war immer ruhig und tief. Selbst wenn er weinte – und er tat es oft.
Irgendwann wollte er umziehen, in eine andere Stadt, vielleicht auch ein anderes Land, nur um geschützt zu sein vor anderen. Anderen, die sich Nazis nannten. In unserer Zeit des ‚Fortschritts’ – doch es ist nur eine weitere Lüge. Nicht mehr und nicht weniger.
Sein Vorhaben konnte niemals in die Tat umgesetzt werden:
""Lauf!" hörte ich Aarons Stimme und fuhr herum. Naiv von mir, wie ich heute weiß. Sehr naiv und sehr dumm.
Hinter Avi standen zehn Männer, alle mit kahlgeschorenen Köpfen. Mit Hakenkreuztätowierungen auf ihren Unterarmen. In dem Moment blieb ich wie versteinert stehen und rührte mich nicht mehr. Kein Ton kam aus meinem Mund. Ich sah Aaron an. Sah die Männer an. Und dann kam die Panik in mir hoch, so schnell und so erschreckend, dass ich ungefähr einen halben Schritt nach hinten sprang und dann weiter zurückwich. Avi schwieg, rief nichts mehr, und schien Angst zu haben. Schreckliche Angst um mich. Es dauerte nur Sekundenbruchteile, in denen ich realisierte, in welcher großen Gefahr wir beide steckten. Dann drehte ich mich um und fühlte meine Beine nicht mehr. Ich spürte nur wie sie mich wegtrugen, obwohl ich es nicht wollte. Von weit, weit hinten hörte ich schreckliche Beschimpfungen und Schreie, die von Aaron stammen mussten. Schmerzensschreie und Angstschreie. Da blieb ich stehen, hörte auf zu laufen, weil ich nicht bereit war, ihn hier sterben zu lassen, wehrlos und bei Regen in der Gosse, weil er zusammengeschlagen wurde.
Langsam drehte ich mich um und sah, dass mich fünf Männer verfolgt hatten. Auch die blieben stehen und ich schlucke. Tränen des Zorns stiegen in meine Augen. Da spürte ich schon eine Hand auf meinem Arm, einen festen, schmerzhaften Griff. Ich begann um mich zu treten und kratzte, biss. Sie schleppten mich zurück zu Aaron und stießen mich auf die Straße. Ich schlug mit der Schläfe auf, mir wurde schwarz vor Augen, aber ich kämpfte. Für Aaron, für meinen Freund. Ich sah das grausamste Bild meines Lebens. Ein Bild, das sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Sie traten, prügelten auf ihn ein und er schrie und krümmte sich vor Schmerz. Ich blieb liegen, in der Hoffnung, ihm später helfen zu können. Blut war um mich, auf der Straße, vermischte sich mit dem Regen und rann in den nächsten Kanaldeckel. Ich täuschte also Bewusstlosigkeit vor. Mein Kopf kippte auf den Boden, ich fühlte etwas Nasses, Kaltes, aber ich wusste nicht ob es der Regen war. Es konnte auch Blut sein. Aber es spielte keine Rolle. Nicht mehr.
Der Regen prasselte auf mein Gesicht. Dann waren die Stimmen auf einmal weg, fort. Keine Schimpfwörter mehr. Keine Schläge mehr. Langsam drehte ich meinen brummenden Kopf und blickte in Aarons Augen. Sie waren weit geöffnet, aufgerissen und ich schrak hoch. Hebräische Worte kamen aus seinem Mund. Ich verstand sie nicht, aber wie er es sagte, reichte für mich. Vollkommen. Ich hörte ihn flach atmen und er stöhnte. Ich sah ihn an, erfasste nichts von diesen Dingen. Er stirbt, schoss es mir durch den Kopf. Es schien ein Urinstinkt zu sein, dass ich es dachte.
Der Schmerz brannte tief in mir, in meinen Augen, in meiner Seele. Er übermannte mich, zwang mich in die Knie und brachte mich dazu, zu schreien. Brennendes Napalm in meinem Herz, Hass in jeder einzelnen Faser meines Körpers. Tiefe, brennende Rache. Meine Hände verformten sich zu Fäusten, mein Verstand setzte aus. Die Emotionen nahmen Überhand – sie waren es, die mich leiteten. Ich verlor die Kontrolle.
Und dann rannte ich den Menschen nach, ging auf sie los, auf zehn erwachsene Männer, trat mit aller Kraft auf sie ein und schlug sie bewusstlos. Ich wollte ihnen das zurückgeben, was sie Aaron beschert hatten und ihnen das nehmen, was sie ihm gestohlen hatten. Ich wünschte ihnen den Tod auf den Hals. Sie rannten. Ich weiß bis heute nicht, wie es möglich gewesen war.
Das Licht in Aarons Augen war da. Es flackerte und war schwach – fast wie die Flamme einer Kerze, die bald ausgehen würde – aber es war da.
„Hör mir zu,“, stammelte er, „wenn du die Rettung holst, dauert es zu lange. In zwei Minuten bist du bei meinem Bruder. Bring ihn her. Er muss mit mir beten. Bitte, beeil dich!“
Die Tränen liefen meine Wangen hinab. Ich wollte mich nicht gegen das wehren, was bestimmt war, das Offensichtliche nicht leugnen. Langsam nickte ich und rannte los.
Ich kam mit seinem Bruder zurück und Aaron griff nach meiner Hand, als ich mich auf den Boden kniete. Ein Zittern lief durch seinen Körper, wie ein Erdbeben. Seine Lippen bewegten sich tonlos, lautlos. Formten Worte in einer Sprache, die ich nicht verstand.
Dann brach meine Welt zusammen. Ich dachte, dass mich der Schmerz umbringen würde, dass ich im Boden versinken würde. Schrie und schrie und weinte, brüllte auf. Wusste, nie wieder der gleiche Mensch sein zu können, dass mein Leben zerstört war. Denn vor meinen Augen zog Wind auf und ich versuchte noch, die Flamme der Kerze zu schützen. Aber sie erlosch.
Einige Tage später kam ich zurück in die Schule. Ich schlug oft gegen die Wand, ich schlug mir die Hände blutig. Doch der Schmerz klang nicht ab. Niemand kann mir Aaron ersetzen, aber er wird immer bei mir sein. Das gibt mir Hoffnung, dass sein Tod nicht umsonst war. Aaron, ich liebe dich und ich werde dich niemals vergessen."
Diese Geschichte gehört vielleicht nicht hierher. Aber sie sollte wirklich allen, die sie lesen, einen Denkanstoß geben.
‚Aragorn’, 7.4.2002
Sucht mich nicht hier,
sucht mich in eurem Herzen.
Habe ich mir da kein Denkmal errichtet,
so ist mein Streben vergebens gewesen.
Die Rächtschraibfähler sind meine, sucht Euch Eure eigenen!