Thema: Die Netze der Stadt
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02.11.2006, 00:53 #1
Einer von denen
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Die Netze der Stadt
Die Netze der Stadt
in den grauen Steinmauern der Stadt
verfängt sich das Geschwätz der Touristen
wie in alten aber sorgsam geflickten Fischernetzen
ausgeworfen um das Brot auf den Tisch zu bringen
ausgeworfen um das Geld in die Kassen zu bringen
ausgeworfen wegen des Kitzels der Jagd
nach den Naiven und Gutgläubigen
die alles kaufen
nur um zu Hause damit prahlen zu können
einen Hauch des luftigen Genius
auf der trockenen Haut gespürt zu haben
einen Hauch von Nachtmusik
an lauen Abenden
doch noch ist Mittag
und
die Straßen stöhnen unter der Hitze
auf
die Tauben haben sich verkrochen
kein Flügelschlag bringt die Luft in Wallung
nur nicht viel bewegen
Ich Wanderer Beheimateter Fremder
der die Saat der Stadt gestreut
und die Ernte eingefahren hat
raste blicklos auf dem grün schimmernden Kapitelplatz
nebenan zwei karge Männer
in das Schachspiel vertieft
verschieben Figuren wie Schicksale
und nichts ist von Dauer
über mir die Festung
wie sie trotzt
all den Gefahren die ihr nicht mehr drohen
eine Glucke an die sich zitternd die Häuser schmiegen
mit ihren Rissen und Falten und dem dreckigen Lehm
der die alten Geschichten noch kennt
Geschichten wie der Legende
vom Stierwäscher
Beweis des Erfindergeistes in großer Not
oder nur ein abendfüllendes Märchen
auf jeden Fall sind wir alle gute Stierwäscher
immer noch
das gehört dazu
zur Selbstdefinition zum Selbstverständnis zum Selbst
das uns alle gefangen nimmt
es gibt kein Entrinnen aus den Straßen
in denen man geboren wurde
egal wie oft man sich auch entfernt
und immer wieder lande ich hier
im kühlenden Schatten des mächtigen Domes
der selbstherrlich die Bühne bildet
für die Dramen
die gespielten und die gelebten
und immer wieder atme ich ein und aus
die Luft an die meine Lungen von Beginn an gewöhnt sind
und drehe mich im Kreis
und verfange mich in den Netzen der Stadt
ausgeworfen um die Kinder an die Mutter zu binden
doch niemals stellt sich die Frage
ob die angebetete Mutter tatsächlich
unter Schmerzen das Ich
mich
uns alle
geboren und aus dem triefenden Leib gezogen hat
oder wir bloß irgendwann von ihr akzeptiert wurden
wie zugelaufene Hunde
oder ist es der Vater
denn nicht zu leugnen sind die markant männlichen Züge
welche die Stadt manchmal trägt
wenn es regnet
oder im Hintergrund der Baustellenlärm tobt
doch im Grunde scheint es gleichgültig zu sein
die Frage ist kaum von Bedeutung denn
ich entkomme doch nicht
obwohl ich es stets versuche
und aufs Neue abreise und abschließe
mit den vertrauten Gassen dem geschwätzigen Sein
inmitten des täglichen Theaters
mir meine eigene kleine Bühne zimmere
auf der ich zukünftig spielen möchte
fernab jeglicher Festspiele
die nicht die meinen sind
kann ich doch so nicht spielen
wie es von mir erwartet wird
passe ich doch nicht in die Vorurteile
obwohl ich mich bemühe sie zu erfüllen
allein wenn ich mich abseits der ausgetretenen Pfade
auf Erkundung begebe auf Pirsch
nach Aussichten und Einsichten
fühle ich mich so
wie ich mich fühlen muss
angesichts meiner Geburtsstätte
und meines Grabes
irgendwann
nur dann wenn ich allein über den Dächern wandle
und alles Leben unten in der Stadt unwesentlich wird
ich durch die engmaschigen Netze schlüpfen kann
wenn auch nur für eine Weile
dann fühle ich den Puls
das Vibrieren der Straßen und meines
Brustkorbes
und ein Funken Verständnis entzündet sich
für das was leichthin als Heimat bezeichnet wird
und doch so schwer zu erfassen ist
da sich immer irgendetwas oder irgendjemand
quer legt
im Gemüt
meistens die Heimat selbst
denke ich
doch in diesen lichten Augenblicken
wenn alles zu einer konturlosen Masse verschmilzt
die in der heißen Augustsonne flimmert
und ich vom richtigen Blickwinkel aus
hinab auf die dampfende Stadt schaue
dann vergesse ich
dass ich eigentlich fehl am Platz bin
und meine Felder nicht mehr beackern kann
in Zukunft
denn das ist nicht mehr meine AufgabeGeändert von Roderich (05.11.2006 um 23:56 Uhr)
"Man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben fähig ist."
Jorge Luis Borges
Mein Wiedereinstiegsgedicht nach all der Zeit: So ist mein Herz ein dunkler Teich
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Freiwillige Selbstverpflichtung 3:1
Und hier noch auf Wunsch von Nachteule etwas von ihm (als Dank für die Hilfe im Mod-Faden): Nachteule
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03.11.2006, 00:17 #2
Altes Reimschlachtross
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Hallo Thomas,
ein ungewöhnlich langes, aber deswegen nicht minder interessantes Gedicht, das sich äußerst ambivalent und sehr eindinglich mit dem Heimatbegriff auseinandersetzt, Salzburg ist natürlich unverkennbar.
Bevor ich mich auf Einzelheiten einlasse, möchte ich schnell noch dies vorausschicken.
Wie du sicher weißt, tue ich mich generell als alter Reimgaul mit offenen Prosagedichten ziemlich schwer, eben weil ich nicht einzusehen vermag, dass nur ein mehr oder weniger willkürlich gesetzter Zeilenumbruch aus purer Prosa schon ein Gedicht macht.
Da diese Thematik aber schon des öfteren hier im Forum heiß hin und her diskutiert wurde, ohne das man sich je über die Kriterien hätte einigen können, will ich dies alles lieber mal außen vor lassen und mich lediglich zum Aufbau, zur Struktur und natürlich zum Inhalt selbst äußern.
Nach zweimaligem Durchlesen bekomme ich mehr und mehr den Eindruck, sehrwohl etwas Besonderes darin zu erkennen, nämlich einen gelungenen Versuch, dich kritisch-distanziert mit deiner Heimatstadt und ihren Wechselbezügen in deinem Leben auseinanderzusetzen.
in den grauen Steinmauern der Stadt
verfängt sich das Geschwätz der Touristen
wie in alten aber sorgfältig geflickten Fischernetzen
ausgeworfen um das Brot auf den Tisch zu bringen
ausgeworfen um das Geld in die Kassen zu bringen
ausgeworfen wegen des Kitzels der Jagd
nach den Naiven und Gutgläubigen
die alles kaufen
nur um zu Hause damit prahlen zu können
einen Hauch des luftigen Genius
auf der trockenen Haut gespürt zu haben
einen Hauch von Nachtmusik
an lauen Abenden
doch noch ist Mittag
und
die Straßen stöhnen unter der Hitze
auf
die Tauben haben sich verkrochen
kein Flügelschlag bringt die Luft in Wallung
Ich Wanderer Beheimateter Fremder
der die Saat der Stadt gestreut
und die Ernte eingefahren hat
raste blicklos auf dem grün schimmernden Kapitelplatz
nebenan zwei karge Männer
in das Schachspiel vertieft
verschieben Figuren wie Schicksale
und nichts ist von Dauer
über mir die Festung
wie sie trotzt
all den Gefahren die ihr nicht mehr drohen
eine Glucke an die sich zitternd die Häuser schmiegen
mit ihren Rissen und Falten und dem dreckigen Lehm
der die alten Geschichten noch kennt
Geschichten wie der Legende
vom Stierwäscher
Beweis des Erfindergeistes in großer Not
oder nur ein abendfüllendes Märchen
es gibt kein Entrinnen aus den Straßen
in denen man geboren wurde
egal wie oft man sich auch entfernt
und immer wieder lande ich hier
im kühlenden Schatten des großen Domes
der selbstherrlich die Bühne bildet
für die Dramen
die gespielten und die gelebten
und immer wieder atme ich ein und aus
die Luft an die meine Lungen von Beginn an gewöhnt sind
und immer wieder drehe ich mich im Kreis
und verfange mich in den Netzen der Stadt
ausgeworfen um die Kinder an die Mutter zu binden
doch niemals stellt sich die Frage
ob die angebetete Mutter tatsächlich
unter Schmerzen das Ich
mich
uns alle
geboren und aus dem triefenden Leib gezogen hat
oder wir bloß irgendwann von ihr akzeptiert wurden
wie zugelaufene Hunde
oder ist es der Vater
denn nicht zu leugnen sind die markant männlichen Züge
welche die Stadt manchmal trägt
wenn es regnet
oder im Hintergrund der Baustellenlärm tobt
doch im Grunde scheint es gleichgültig zu sein
auf welcher Art des Magnetismus
die Anziehungskraft beruht
weg kann ich doch nicht
obwohl ich es stets versuche
von Flughäfen
von Bahnhöfen
von Autobahnen
abreise und abschließe
mit den vertrauten Gassen dem geschwätzigen Sein
inmitten des vertrauten Theaters
mir meine eigene kleine Bühne zimmere
auf der ich zukünftig spielen möchte
fernab jeglicher Festspiele
die nicht die meinen sind
kann ich doch so nicht spielen
wie es von mir erwartet wird
passe ich doch nicht in die Vorurteile
obwohl ich mich bemühe sie zu erfüllen
auf Erkundung begebe auf Pirsch
nach Aussichten und Einsichten
fühle ich mich so
wie ich mich fühlen muss
angesichts meiner Geburtsstätte
und meines Grabes
irgendwann
nur dann wenn ich allein über den Dächern wandle
und alles Leben unten in der Stadt unwesentlich wird
ich durch die engmaschigen Netze schlüpfen kann
wenn auch nur für eine Weile
dann fühle ich den Puls
das Vibrieren der Straßen und meines
Brustkorbes
und ein Funken Verständnis entzündet sich
für das was leichthin als Heimat bezeichnet wird
und doch so schwer zu erfassen ist
da sich immer irgendetwas oder irgendjemand
quer legt
im Gemüt
meistens die Heimat selbst
denke ich
doch in diesen lichten Augenblicken
wenn alles zu einer konturlosen Masse verschmilzt
die in der heißen Augustsonne flimmert
und ich vom richtigen Blickwinkel aus
hinab auf die dampfende Stadt schaue
dann vergesse ich
dass ich eigentlich fehl am Platz bin
und meine Felder nicht mehr beackern kann
in Zukunft
denn es ist nicht mehr meine Aufgabe
Puh, ächz und schwitz, das war wohl jetzt mit Abstand mein längster Kommentar, zumindest von der rein optischen Länge her. Ich hoffe, dass du etwas damit anfangen kannst, obwohl ich ja nur interpretiert habe.
Es hat mir aber doch Freude gemacht, weil ich die Betrachtungen deines LI, obwohl ich natürlich weiß, das du persönlich in Gänze schon dahintersteckst, sehr gut nachempfinden konnte, zumal ich mir schon des öfteren ähnliche Gadanken über den Heimatbegriff gemacht habe und ihn sogar noch um Nuancen distanzierter sehe.
Liebe Grüße
cruxGeändert von crux (03.11.2006 um 01:28 Uhr)
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03.11.2006, 00:34 #3
Einer von denen
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Hallo Crux,
wow - eigentlich habe ich mir ja nur ein knappes "Ist gut" oder "Ist nicht gut" angesichts der Länge des Gedichtes erhofft, aber deine Interpretation lässt mich jetzt mal in den Sessel plumpsen. Vielen herzlichen Dank dafür!
Was die wohl ewig umstrittene Frage, wo Prosa aufhört und Lyrik anfängt, betrifft, so lassen wir das lieber beiseite, wie du schon vorgeschlagen hast. Mir persönlich liegen die Ungereimtheiten mehr als Reime, aber das ist Geschmackssache.
Die Sache mit dem Heimatbegriff und den Wechselbezügen in meinem Leben ist natürlich sehr scharf erkannt von dir und zu 90% kann man hier das lyr. Ich mit dem Autoren gleichsetzen, ausnahmsweise einmal. Es bleiben zwar immer noch 10%, die ich so im Gedicht - für mich - nicht unterschreiben kann, aber im Grunde spiegelt das Gedicht meine Beschäftigung mit der Heimat wieder. Insofern liegt es mir auch besonders am Herzen und daher auch meine Bitte an dich, ein paar Worte dazu zu verlieren, denn angesichts der Länge und auch der Sperrigkeit des Themas (wen interessiert schon eine eingehende Beschäftigung meiner Beziehung zu Salzburg?) habe ich schon damit gerechnet, dass dieses Gedicht in den Untiefen sämtlicher Lyrikforen absauft.
Was deine Interpretation betrifft, so ist sie wunderbar schlüssig und trifft genau das, was ich mit dem Gedicht aussagen wollte. Zum Teil ist es verblüffend, wie sehr deine Gedankengänge meinen eigenen beim Schreiben ähneln. Lediglich bei einer Stelle bin ich nicht zu 100% bei dir - am Anfang nämlich, denn die Verführungskünste der Stadt beziehen sich eher auf die Touristen als die Bewohner, da die Bewohner selbst ja die Netze auswerfen. Aber das ist nur ein winziges Detail und auch deine Lesart ist völlig zulässig.
Noch ein paar klärende Worte zu meinem eigenen Heimatverständnis: Ich weiß, dass Salzburg meine Heimat ist. Das ist die Stadt, in der ich geboren wurde, in der ich aufgewachsen bin, in der ich die meiste Zeit meines Lebens verbracht habe. Ich kenne dort die Namen der Straßen, weiß, wie die Busse fahren, welche Radfahrwege im Winter vom Schnee befreit werden und welche nicht. Das alles könnte bzw. sollte dazu beitragen, dass das Heimatgefühl entsteht. Problem: Je älter ich werde, desto mehr entferne ich mich von der Stadt und auch wenn ich gerne dort bin, so werde ich mehr und mehr zum Besucher. Ich nehme die Stadt anders wahr als früher und wenn ich an einem mir bekannten Gebäude vorbeigehe oder vorbeifahre, dann eröffnen sich mir Erinnerungen an frühere Zeiten, aber es weckt keine Assoziationen zu meiner Gegenwart. Wenn ich in der Stadt spazieren gehe, dann mache ich also einen Spaziergang durch meine Vergangenheit, in der Gegenwart gibt es mich gar nicht so richtig in der Stadt. Das mag jetzt seltsam klingen und natürlich stimmt das auch nicht immer und überall zu 100%, aber ich denke, dass ich dir so ungefähr vermitteln konnte, was ich empfinde und woraus dieses Gedicht schließlich besteht. So viel jedenfalls zur Entstehungsgeschichte.
Wie gesagt, das ist wohl mein bisher "intimstes" Gedicht und wohl so ziemlich das einzige Mal, dass ich sagen kann bzw. muss: Das bin ich. Hier kann ich kein lyr. Ich vorschieben und irgendwie ist das auch gut so. Ich hoffe doch, dass ich dadurch etwas mehr Tiefe erreichen konnte als wenn ich mich mit dem Heimatbegriff als Kunstprodukt, auf einer abstrakteren Ebene beschäftigt hätte.
Noch einmal vielen lieben Dank für deine ausführliche Beschäftigung mit meinem Gedicht - das bedeutet mir wirklich viel.
Ach ja, was deine Verbesserungsvorschläge bezüglich des "immer wieder" angeht, so werde ich das natürlich noch überarbeiten. Nur heute bin ich wohl schon zu müde dazu, werde mich morgen darum kümmern. Nur, dass du weißt, dass deine berechtigte Kritik nicht auf taube Ohren gestoßen ist.
Viele Grüße
Thomas"Man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben fähig ist."
Jorge Luis Borges
Mein Wiedereinstiegsgedicht nach all der Zeit: So ist mein Herz ein dunkler Teich
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Und hier noch auf Wunsch von Nachteule etwas von ihm (als Dank für die Hilfe im Mod-Faden): Nachteule
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03.11.2006, 10:45 #4
Der Bauchpoet
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Hi Roderich
Erstmal vornerweg - ich fand es stark - es schwingt, singt und lebt. Egal ob es Prosa ist oder ein Versuch oder eine Idee - es lebt!
Sehr schöne Gedanken!
Die Netze der Stadt
in den grauen Steinmauern der Stadt
verfängt sich das Geschwätz der Touristen
wie in alten aber sorgfältig geflickten Fischernetzen
ausgeworfen um das Brot auf den Tisch zu bringen
ausgeworfen um das Geld in die Kassen zu bringen
ausgeworfen wegen des Kitzels der Jagd
nach den Naiven und Gutgläubigen
die alles kaufen
nur um zu Hause damit prahlen zu können
einen Hauch des luftigen Genius
auf der trockenen Haut gespürt zu haben
einen Hauch von Nachtmusik
an lauen Abenden
Sehr schöne Stimmung eingefangen. Allerdings dene ich hier erst mal unweigerlich an Urlaubsorte, Süden und Sonne - dort wo man eben ein Stück des Urlaubs in Form von Habseligkeiten gern mit nach Hause trägt.
doch noch ist Mittag
und
genialer Umschwund finde ich
die Straßen stöhnen unter der Hitze
auf
die Tauben haben sich verkrochen
kein Flügelschlag bringt die Luft in Wallung
Ich Wanderer Beheimateter Fremder
der die Saat der Stadt gestreut
und die Ernte eingefahren hat
raste blicklos auf dem grün schimmernden Kapitelplatz
Das wirkt an der Stille plötzlich so abgehoben auf mich und stört mich irgendwie in der Lesestimmung!
nebenan zwei karge Männer
in das Schachspiel vertieft
verschieben Figuren wie Schicksale
und nichts ist von Dauer
JA genau - nichts ist von Dauer ... das Bild mit den Figuren ist hier sehr gut! (kennst Du eigentlich mein Wien Gedicht das ich geschrieben habe nach dem Dichterplanettreffen? Da habe ich die gleiche Formulierung und Stimmung verdichtet - Ganz leicht und vergessen heißt es)
über mir die Festung
wie sie trotzt
all den Gefahren die ihr nicht mehr drohen
eine Glucke an die sich zitternd die Häuser schmiegen
mit ihren Rissen und Falten und dem dreckigen Lehm
der die alten Geschichten noch kennt
Geschichten wie der Legende
vom Stierwäscher
Beweis des Erfindergeistes in großer Not
oder nur ein abendfüllendes Märchen
auf jeden Fall sind wir alle gute Stierwäscher
immer noch
das gehört dazu
zur Selbstdefinition zum Selbstverständnis zum Selbst
das uns alle gefangen nimmt
es gibt kein Entrinnen aus den Straßen
in denen man geboren wurde
egal wie oft man sich auch entfernt
diesen Part finde ich wunderschön und absolut treffend ...allerdings beschränke ich es NICHT auf die Geburt. Es gibt viele Menschen die in der Wahlheimat leben, die wirklich wesentlicher ist.
Hier fühl ich mich geborgen, hier ist mein Heim - hier will ich sein!
Ich bin z.B. in Soltau geboren - "Wo ist Soltau?" Ja in Norddeutschland so viel ich weiß.
und immer wieder lande ich hier
im kühlenden Schatten des großen Domes
der selbstherrlich die Bühne bildet
für die Dramen
die gespielten und die gelebten
und immer wieder atme ich ein und aus
die Luft an die meine Lungen von Beginn an gewöhnt sind
und immer wieder drehe ich mich im Kreis
und verfange mich in den Netzen der Stadt
die zwei Verse sind auch unheimlich stark - sehr atmosphärisch ...und mit vielen Jahren auf dem Buckel !
ausgeworfen um die Kinder an die Mutter zu binden
doch niemals stellt sich die Frage
ob die angebetete Mutter tatsächlich
unter Schmerzen das Ich
mich
uns alle
geboren und aus dem triefenden Leib gezogen hat
oder wir bloß irgendwann von ihr akzeptiert wurden
wie zugelaufene Hunde
oder ist es der Vater
denn nicht zu leugnen sind die markant männlichen Züge
welche die Stadt manchmal trägt
wenn es regnet
oder im Hintergrund der Baustellenlärm tobt
doch im Grunde scheint es gleichgültig zu sein
auf welcher Art des Magnetismus
die Anziehungskraft beruht
weg kann ich doch nicht
obwohl ich es stets versuche
von Flughäfen
von Bahnhöfen
von Autobahnen
abreise und abschließe
mit den vertrauten Gassen dem geschwätzigen Sein
inmitten des vertrauten Theaters
mir meine eigene kleine Bühne zimmere
auf der ich zukünftig spielen möchte
fernab jeglicher Festspiele
die nicht die meinen sind
Ich bin ja immer für modern und durchaus auch für Gewagtes...empfinde aber hier die Autobahnen und Flughäfen sehr unstimmig eingeflechtet, da die sonst so antiquierte Wortfindung so herrlich nach Antik und Geschichte klingt. Das klingt so "reingeschmissen" !
kann ich doch so nicht spielen
wie es von mir erwartet wird
passe ich doch nicht in die Vorurteile
obwohl ich mich bemühe sie zu erfüllen
allein wenn ich mich abseits der ausgetretenen Pfade
auf Erkundung begebe auf Pirsch
nach Aussichten und Einsichten
fühle ich mich so
wie ich mich fühlen muss
angesichts meiner Geburtsstätte
und meines Grabes
irgendwann
nur dann wenn ich allein über den Dächern wandle
und alles Leben unten in der Stadt unwesentlich wird
ich durch die engmaschigen Netze schlüpfen kann
wenn auch nur für eine Weile
dann fühle ich den Puls
das Vibrieren der Straßen und meines
Brustkorbes
und ein Funken Verständnis entzündet sich
für das was leichthin als Heimat bezeichnet wird
und doch so schwer zu erfassen ist
da sich immer irgendetwas oder irgendjemand
quer legt
im Gemüt
meistens die Heimat selbst
denke ich
doch in diesen lichten Augenblicken
wenn alles zu einer konturlosen Masse verschmilzt
die in der heißen Augustsonne flimmert
und ich vom richtigen Blickwinkel aus
hinab auf die dampfende Stadt schaue
dann vergesse ich
dass ich eigentlich fehl am Platz bin
und meine Felder nicht mehr beackern kann
in Zukunft
denn es ist nicht mehr meine Aufgabe
Der letzte Teil wird irgendwie GANZ GROSS und erinnert mich auch an meinen Text "Die Städte" aus Bordsteingespräche. (kennst Du ja)
Alles so vergänglich, alles so unwesentlich - und doch ist man da ein kleiner Teil dieser Geschichte.
Ich habe Deinen Text sehr genossen - man könnte ihn sicher zerfetzen - das überlasse ich den Formalisten und Vermessungstechnikern - ich habe da ein starkes Stück Lyrik mit viel Gefühl gelsesen.
In dem Sinne
es grüßt das KerlchenGeändert von Kerlchen40 (03.11.2006 um 10:49 Uhr)
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03.11.2006, 10:50 #5
Einer von denen
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Hallo Stefan,
ich danke dir vielmals für deine ausführliche und so hilfreiche Kritik! Das ist wirklich großartig, damit kann ich sehr viel angefangen. Wenn das Gedicht dann auch noch als Ganzes zugesagt hat, bin ich überhaupt nicht mehr zu halten. Vielen Dank!
Werde mir deine einzelnen Kritikpunkte noch einmal ganz genau zu Gemüte führen, wenn ich mich an die Überarbeitung setze. Was ich so beim ersten Lesen mitgenommen habe, ist, dass ich dir eigentlich bei allen Punkten spontan Recht geben kann. Nur was die Geburtsstätte betrifft, so möchte ich das jedenfalls so drinnen lassen, wie es ist, denn so empfinde ich selbst. Natürlich hast du Recht, das auch eine Wahlheimat dieses Heimatgefühl erzeugen kann, aber darum ging es mir hier nicht.
Dein Wien-Gedicht kenne ich übrigens noch nicht, das ist mir - Schande über mich - bisher entgangen. Werde ich aber nachholen.
Viele Grüße
Thomas"Man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben fähig ist."
Jorge Luis Borges
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03.11.2006, 10:54 #6
Der Bauchpoet
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Hallo Thomas,
wenn ich helfen konnte/Impulse geben konnte freuts mich - das mit dem Wien Gedicht ist nicht so wichtig - es hat nur komischwerweise ne ähnliche Stimmung an dieser Stelle - kann aber bei weitem nicht mit diesem Text mithalten. War nur ne kurze Stimmungswiedergabe nach einerm Erlebnis dort
Ich beobachte diesen Text weiter! Du wirst, nein bist schon ein großer Geschichtenschreiber!
Wink Stefan
-
03.11.2006, 11:04 #7
Einer von denen
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Hallo noch einmal,
ich werde den Text heute im Laufe des Tages noch ein wenig polieren. Viel möchte ich nicht mehr ändern, aber die von dir angesprochenen Stellen werden natürlich überarbeitet. Da bist du wirklich eine sehr große Hilfe gewesen.
Werde dir eine PN schicken, wenn ich den Text geändert habe. Vielleicht, dass du das dann noch mal kurz abnickst, wenn es passt, bzw. wenn es nicht passt, dann mir noch einmal einen dezenten Tritt in den Allerwertesten gibst.
Und vielen Dank für dein nettes Lob, da werde ich ganz rot, etwa so:
Viele Grüße
Thomas"Man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben fähig ist."
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03.11.2006, 22:01 #8
gewaschen
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Hi Roderich
Auch wenn die bisherigen Kommentare vielleicht als Feedback schon reichen würden, geb ich auch noch meinen Senf dazu...Lob kann man nie genug kriegen
Ich weiß ja nichts über dich als Person und hab das Gedicht daher überhaupt nciht auf dich bzogen, meine Interpretation sah also auch leicht anders aus. Hat in mir eins ehr reales Bild von Venedig geweckt (auch wenn ich noch nie da war): Tauben, Dom, (Markt)Platz, Schachspieler, Wärme...... Und ich hab es definitiv sehr genossen =)
Das Bild mit den (Fischer)Netzen hat mir sehr gut gefallen,vor allem, wenn es darum geht, dass das LI nicht wirklich von der Stadt loskommt, und später nochmal. Dadurch führt der Titel wie ein roter Faden durch's Gedicht.
Es scheint dienen Stil auszuzeichnen (und spricht mich ganz besonders an), dass du einige Schlüsselaspekte aus anderen Perspektiven wieder aufgreifst (z.B. die Felder, auf die zum Schluss noch mal Bezug genommen wird; oder die Bühne des Lebens, die die Stadt dem Bewohner aufzwingt im Gegensatz zu der, die er sich selbst "baut"). Das lässt das Gedicht meiner Meinung nach "runder" erscheinen und ist in dem Fall ein definitiv gut eingesetztes Stilmittel.
Meiner Meinung spricht ganz besonders für dein Gedicht, dass es so lebendige Bilder in mir hervorgerufen hat. Auch gefallen haben mir die für mich recht neuen Bilder (z.B. "kein Flügelschlag bringt die Luft in Wallung")
Auch sehr berührt hat mich die personifizierte Festung, deren Mutterinstinkte und "Falten" sie wie ein altes, menschliches Wesen erscheinen lassen.
Eine Verständnisfrage, was ist mit "passe ich doch nicht in die Vorurteile
obwohl ich mich bemühe sie zu erfüllen" gemeint?
Wortspiele wie "Aussichten und Einsichten" tragen dazu bei, dass es Spaß amcht, dein Gedicht zu lesen.
Das einzige was mir nicht gefällt, ist der Abschnitt:
"doch im Grunde scheint es gleichgültig zu sein
auf welcher Art des Magnetismus
die Anziehungskraft beruht
weg kann ich doch nicht"
Der Rest ist so gefühlvoll und bildhaft gezeichnet, dagegen wirkt diese Aussage auf mich irgendwie nciht besonders poetisch udn zu flach. Außerdem wird das Fazit (das ja im Prinzip schon ein wichtiger Teil des Gedichts ist) dem Leser zu sehr auf dem goldenen Tablett serviert. Das ist ein ziemlichwichtiger Teil, regt aber im Gegensatz zum Rest nicht zum Nachdenen an
So, hab mir ziemlcih Mühe gegeben mit dieser Kritik...hoffe das wird entsprechend gewürdigt
Ne scherz, aber ich hoffe schon, dass dir mein Kommenatr noch irgendwie weitergeholfen hat
Lieber Gruß, Sweet LadyI have the simplest tastes. I am always satisfied with the best.
Oscar Wilde
-
04.11.2006, 00:46 #9
Einer von denen
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Hallo Sweet lady,
und wie dein Kommentar gewürdigt wird! Ich kann dir gar nicht genug für deine ausführliche Kritik und dein Lob danken!
Es freut mich ganz besonders, dass auch du als Leserin, die weder mich kennt noch das Gedicht auf die Stadt Salzburg bezieht, mit meinem Gedicht etwas anfangen konntest. Wie ich weiter oben schon erwähnt habe - unproblematisch ist der Inhalt ja nicht, wenn man weder Stadt noch Autor kennt.
Dass du das Gedicht übrigens mit Venedig verbindest, ist interessant, denn Venedig und Salzburg gleichen sich in vielerlei Hinsicht. Beide Städte leben zum allergrößten Teil vom Tourismus, beide Städte sind schon sehr alt und hatten ihre beste Zeit in der Vergangenheit, wovon sie heute noch zehren, auch in der Architektur finden sich viele Parallelen, da Salzburg zum Teil sehr stark von der italienischen Architektur beeinflusst wurde (soweit ich das als Architektur-Laie mitbekommen habe). Insofern passt Venedig hier auch sehr gut rein in das Gedicht.
Zu deiner Verständnisfrage betreffend der Vorurteile: Die Salzburger Stadtbevölkerung gilt im Rest von Österreich (und auch im Land Salzburg) als ziemlich hochnäsig und versnobt. Eben die Festspielgesellschaft, die "Geldigen", die Besseren. Das sind die Vorteile, die ich gemeint habe und als Salzburger wird man, wenn man woanders in Österreich ist, fast unweigerlich mit diesen Vorurteilen konfrontiert. Wie eigentlich Menschen aus allen Bundesländern, denn zu jeder Region von Österreich gibt es Vorurteile, die dann gleich ausgepackt werden, wenn man jemanden aus einer bestimmten Region kennenlernt. Oft wundern sich die Leute dann, wenn man diesen Vorurteilen nicht entspricht (so wie ich, da ich - wenn man von den Stereotypen ausgeht - durchaus ein eher untypischer Salzburger Städter bin). Wenn ich nun schreibe, dass ich versuche, den Vorurteilen zu entsprechen, dann ist das ein kleiner, versteckter Seitenhieb in Richtung all derer, die eben in diesen Stereotypen denken.
Die von dir kritisierte Stelle werde ich mir im Übrigen bei der Überarbeitung (die ich heute leider noch nicht geschafft habe, obwohl ich sie mir vorgenommen habe) glatt bügeln, denn da triffst du zielsicher einen wunden Punkt des Gedichtes. Mit dieser Stelle bin ich selbst nicht ganz zufrieden und das zu Recht, wie sich durch deinen Kommentar bestätigt hat. Werde mir also diese Stelle gemeinsam mit den Stellen, die Kerlchen schon angesprochen hat, ansehen und dann überarbeiten. Das aber morgen, heute bin ich (wieder) zu müde dafür. Kommt aber sicher noch.
Noch einmal vielen herzlichen Dank für deine Hilfe und dein Lob - beides freut mich sehr.
Viele Grüße
Thomas"Man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben fähig ist."
Jorge Luis Borges
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08.11.2006, 13:52 #10
Der Bauchpoet
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Hi nochmal,
ich kann die Überarbeitung nur begrüßen. Sehr rund geworden. Das Zimmern der Bühne passt wunderbar rein - hoffe ich erinnere mich da richtig
Toller Text!
Gruß Stefan
-
08.11.2006, 22:58 #11
Einer von denen
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Hallo Stefan,
vielen herzlichen Dank für die erneute Rückmeldung - damit ist mir wirklich sehr geholfen. Schön, dass die Sache nun runder geworden ist, denn dass dieses Gedicht mir wirklich am Herzen liegt, ist mittlerweile, glaube ich, bekannt.
Viele Grüße
Thomas"Man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben fähig ist."
Jorge Luis Borges
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